Wie die Zeit vergeht

Mir ist langweilig. Eine ganze Stunde muss Mami noch arbeiten, dann gehen wir Schlitten fahren. Eine Stunde ist wirklich ewig lang. 

“Mir ist langweilig”, sage ich zu Mami, die vor dem Laptop sitzt. “Ich weiß, mein Schatz. Geh doch schon mal raus und mach ein paar Schnee-Engel”, sagt Mami. Aber wenn mir langweilig ist, hab ich keine Lust rauszugehen. 

“Mir ist langweilig”, sage ich zu Mama, die in einem dicken Ordner blättert. “Ja, das versteh ich… Ruf doch mal Zeze an, xier freut sich bestimmt”, sagt Mama. Aber wenn mir langweilig ist, hab ich keine Lust zu telefonieren. 

“Mir ist langweilig”, sage ich zu Leo. “Lass mich in Ruhe, ich muss Hausaufgaben machen”, sagt Leo. Aber wenn mir langweilig ist, will ich Leo nicht in Ruhe lassen. Stattdessen trete ich ein bisschen gegen Leos Puppenhaus. “Mir ist aber langweilig!” 

Leo stöhnt nur und sagt: “Du kannst mit meinem ferngesteuerten Auto spielen.” Das ist ein wirklich gutes Angebot. Aber wenn mir langweilig ist, hab ich auch keine Lust mit dem ferngesteuerten Auto zu spielen. Deshalb murmle ich nur “Keine Lust” und schlurfe aus dem Zimmer. Dabei stolper ich möglichst laut über die T-Shirts und Socken, die auf dem Boden liegen. Aber Leo hat Kopfhörer aufgesetzt und dreht sich nicht mal um. 

“Wie lange arbeitest du noch?”, frage ich Mami. “Fünf Minuten weniger als beim letzten Mal, als du mich gefragt hast”, sagt Mami. Ich starre die Uhr an, aber die Zeiger bewegen sich nicht. Dabei sind bestimmt schon hundert Minuten vergangen. Vielleicht ist die Uhr stehen geblieben. Vielleicht ist die Zeit stehen geblieben! “Mami! Mama!”, schreie ich erschrocken, “Die Zeit ist stehen geblieben!”

Mami schaut von ihrem Laptop auf und sieht ärgerlich aus. “Jetzt reicht es aber! Wir müssen alle arbeiten! Wenn du willst, dass die Zeit schneller vergeht, spiel doch was!”

Mein Kopf wird ganz heiß vor Wut, aber das ist immer noch besser als Langeweile. “Du hast keine Ahnung!”, schreie ich Mami an und renne an ihr vorbei, um meine Schuhe und Jacke zu schnappen und die Tür hinter mir zu zu knallen. 

Draußen im Flur bleib ich stehen, meine Wut kühlt ein bisschen ab. Ich warte darauf, dass Mami die Tür aufreißt und auch schreit, weil wir nämlich nicht alleine hier im Haus wohnen und man deshalb nicht mit den Türen knallt. Aber sie kommt nicht, nur die Langeweile kommt wieder. Deshalb ziehe ich meine Schuhe an und gehe nach unten in den Hof. 

Der Schnee ist grau und matschig und irgendwie finde ich das ganz schön, weil wenigstens der Schnee weiß, wie ich mich fühle. “Mir ist so la-la-la-la-langweilig”, singe ich leise vor mich hin und trete den Schnee mit den Füßen platt. Auf den Mülltonnen sitzt ein Rabe, der mir interessiert zuguckt. “Kein Wunder”, denk ich, “Dem ist bestimmt auch langweilig.” 

“Ist dir auch langweilig?”, frage ich den Raben. “Nein”, sagt der Rabe und pult mit dem Schnabel an seiner Kralle. “Was ist das, langweilig?” 

Ich weiß nicht genau, was ich darauf antworten soll. Der Rabe ist mit der Kralle fertig, jetzt pickt er an seinem Flügel herum. “Was ist das, langweilig?”, fragt er noch einmal. 

“Langweilig ist, wenn ich was spielen will, aber nicht weiß was”, erkläre ich vorsichtig. “Wenn überhaupt nichts mehr Spaß macht, nicht mal Sachen, die ich sonst gerne mache. Wenn ich darauf warte, dass irgendwas Aufregendes oder Lustiges passiert, aber die Zeit steht still und nichts passiert.”

“Achso”, sagt der Rabe und hört auf sich zu putzen, “Das kenn ich auch. Ich flieg dann immer eine Runde um die Häuser, dann finde ich meistens etwas Spannendes.” 

“Ich kann aber nicht fliegen”, sage ich. 

“Tja, das ist wirklich ärgerlich”, sagt der Rabe und plustert sein Gefieder auf. “Was kannst du denn?”

“Ich kann ganz gut malen”, sag ich zögernd, “Und Sachen bauen. In der Schule haben wir angefangen ein Vogelhaus zu bauen. Aber jetzt ist ja gerade keine Schule.” 

“Na und?”, sagt der Rabe und plustert sich noch mehr auf. “Bau doch trotzdem ein Vogelhaus. Mir ist kalt. Ich hätte gerne ein gemütliches Haus.”

“Aber ich hab kein Werkzeug”, versuche ich zu erklären. “In der Schule haben wir Sägen und Akkuschrauber und Holz und –”

“Holz gibt es hier auch!”, meint der Rabe und flattert von den Mülltonnen. Er hüpft durch den Schnee zu dem Haufen Gerümpel, der am Zaun lehnt. Letztes Jahr haben wir Hochbeete gebaut, dabei ist einiges übrig geblieben. Der Rabe flattert auf ein Brett. “Das ist viel zu groß”, wende ich ein, “Ich hab doch kein Werkzeug!”

“Du hast Hände”, schnarrt der Rabe und zerrt mit dem Schnabel an einem Rest Folie. “Damit könnte man ein gutes Dach basteln”, denke ich, und helfe dem Raben ein passendes Stück abzureißen. “Ein richtiges Vogelhaus können wir nicht bauen”, denke ich laut, “aber vielleicht ein besseres Nest, mit einem Dach, damit du nicht nass wirst und mit Wänden, wenn es windig wird! Aber wo …”

Ich sehe mich um, der Rabe ist in die Hecke geflattert. Die Astgabel, auf der er es sich gemütlich gemacht hat, kann ich gerade noch erreichen. Von dort hat man bestimmt einen schönen Blick auf den Garten. “Wenn du da sitzt, kannst du alle Leute im Hof beobachten, ohne selbst gesehen zu werden! Dann musst du dich auch nicht mehr langweilen”, rufe ich, und fange an, im Gerümpel nach Draht oder Schnur zu suchen. Der Rabe bringt kleine Äste und Zweige und zusammen bauen wir eine richtig stabile Plattform. Die Wände sind ein bisschen schwierig, aber das Dach lässt sich gut in die Hecke knoten. Zufrieden betrachte ich unser Werk.  

Auf einmal steht Mami neben mir, mit dem Schlitten in der Hand. “Na, du siehst ja gut aus!” Erstaunt mustert sie mich und meine schmutzigen Hände. “Tut mir leid, dass ich vorhin so genervt war. Gerade ist es wirklich sehr langweilig. Aber jetzt bin ich fertig. Wollen wir los?”

“Jetzt schon?”, frage ich und werfe einen verstohlenen Blick auf das Vogelhaus. Die Wände sind noch sehr wackelig und ich hatte gerade überlegt, einen zweiten Ausguck zu bauen. 

“Vorhin konnte es dir doch gar nicht schnell genug gehen”, meint Mami, dann zuckt sie mit den Schultern. “Na wie du meinst. Du kannst ja klingeln, wenn du soweit bist, dann komm ich runter.”

“Danke, bis gleich!”, rufe ich ihr hinterher. Vom Dach höre ich den Raben krächzen.

Das schönste Vogelhaus der Welt

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