Ritterin Tapfermut und der Kochlöffel

Der Morgen war klar und kalt. Die Sonne versteckte sich noch hinter den Spitzbergen und Nebel hing zwischen den Büschen. Ein Reh sprang erschrocken davon, als die Ritterin Mina Tapfermut sich ihren Weg durch die Brennnesseln bahnte. Auf ihrer Schulter saß ihr Kater Rabenpfote und grinste: “Ich hab’s ja gesagt, du hättest die langen Wollunterhosen anziehen sollen.”

“Die Wollhosen jucken und pieksen, das weißt du ganz genau”, schimpfte Mina und schlug mit ihrem Schwert nach den Brennnesseln, “Dann würde ich die ganze Zeit jammern, wär dir das vielleicht lieber?” Der Kater grinste nur und deutete mit der Pfote auf eine schmale Rauchfahne, die sich zwischen den Bäumen empor kräuselte: “Zumindest sind wir jetzt wieder auf dem richtigen Weg. Ich hab ja gleich gesagt, dass es keine gute Idee ist, eine von deinen ‘Abkürzungen’ zu nehmen.” “Ja, ja, schon gut”, grummelte Mina und zupfte sich die Kletten von der schmutzigen Hose. “Ich hoffe, bei Oma gibt es Frühstück.” “Bis wir angekommen sind, vielleicht auch Mittagessen”, schnurrte Rabenpfote und sprang von ihrer Schulter. “Dahinten kann ich den Pfad sehen.”

Als sie endlich die kleine Hütte im Wald erreichten, knurrte Minas Magen so laut, dass die Hühner gackernd davon liefen. Die Tür stand offen und ein herrlicher Duft strömte ihnen entgegen. “Oma?”, rief Mina und trat ein. Plötzlich ragte ein dunkler Schatten über ihr auf. “Na, wen haben wir denn da?”, grollte eine tiefe Stimme und Mina griff erschrocken nach ihrem Schwert. Rabenpfote war wie der Blitz verschwunden. Vor ihr stand ein riesiger, schwarzer Wolf. “Tilda, Besuch für dich!”, dröhnte der Wolf, drehte sich um und schlurfte in die Küche. “Besuch?”, die alte Dame eilte durch den Flur und strahlte: “Mina! Das ist aber eine schöne Überraschung! Du kommst genau richtig. Ich hab für mich und Herrn Flauschig Kuchen gebacken. Darf ich vorstellen? Mina, das ist Herr Flauschig, mein Poker-Partner. Herr Flauschig, das ist meine Enkelin Mina Tapfermut, die berühmte Ritterin.” Sprachlos folgte Mina ihrer Oma in die Küche und schüttelte die riesige Wolfstatze.

Sobald der Apfelkuchen serviert wurde, tauchte auch Rabenpfote wieder auf. “So, jetzt erzähl aber mal”, sagte Oma, als Mina bei ihrem dritten Stück Kuchen angelangt war, “Was treibt dich denn zu mir? Abgesehen von meinem Kuchen natürlich.” Mina warf Rabenpfote einen warnenden Blick zu, aber der steckte bis zu den Ohren in einer Schüssel Schlagsahne. “Äh, ich brauche ein bisschen Hilfe, und zwar, ähm, muss ich… gegen Drachen kämpfen.” Oma zog erstaunt die Augenbrauen hoch. “Ich hab gar nichts von einem Drachenüberfall mitbekommen.” Mina schüttelte verlegen den Kopf. “Kein Überfall. Aber Nicki wird… vermisst und ich glaube, dass xier bei den Drachen sein könnte.” “Wie kommst du denn auf die Idee?”, fragte Oma erstaunt. “Naja… das ist natürlich nur eine Vermutung… irgendwo muss ich ja anfangen! Und egal wo Nicki ist, ich werde xien befreien!”

“Ach, du bist wirklich eine tolle große Schwester!”, verzückt wandte sich Oma an Herrn Flauschig, “So tapfer und – ach Rabenpfote! Was soll das denn?” Der Kater hustete und prustete, dass die Sahne nur so spritzte. Mina wurde knallrot, aber Oma stellte zum Glück keine weiteren Fragen, sondern scheuchte den keuchenden Rabenpfote aus der Küche und kam gleich zur Sache. “Meine Freundin Phyllis wird dir weiterhelfen-” “Die mit dem Pfefferkuchenhaus?”, unterbrach Mina sie mit leuchtenden Augen. “Ich glaube, sie hat inzwischen etwas… umdekoriert”, Oma zögerte und Mina wollte gerade nachfragen, aber da strahlte Oma auch schon wieder: “Sie wird dir ganz sicher weiterhelfen. Ich pack dir ein Stück Kuchen für sie ein und schreib dir die Adresse auf. Wir haben keine Zeit zu verlieren!”

Kurze Zeit später stand Mina mit Kuchen und Kater vor der nächsten Hütte. “Hast du dich schon wieder verlaufen?”, gähnte Rabenpfote, der den Weg auf ihrer Schulter verschlafen hatte. “Ich glaube nicht. Es sieht nur irgendwie anders aus als früher.” Mina ließ den Blick über das windschiefe Häuschen gleiten. Es war ein Hexenhäuschen wie aus dem Bilderbuch, nur aus- “Knäckebrot?”, knurrte Rabenpfote, der an einem Blumenkasten knabberte, “Wirklich?”

“Knusper knusper knäuschen”, säuselte eine gut gelaunte Stimme aus dem Inneren und die Tür öffnete sich. “Guten Tag, junge Dame!” Die Hexe warf einen strengen Blick auf Rabenpfote, “Wärst du so freundlich, deinen Kater von meinem Haus fernzuhalten? Es ist nicht so einfach, glutenfreie Cracker zu bekommen. Und er wird zu dick.” Rabenpfote stolzierte gekränkt davon. “Tut mir leid”, entschuldigte sich Mina und streckte der Hexe verlegen den Kuchen hin, “Meine Oma, ich meine Tilda Tapfermut schickt mich, weil Sie mir vielleicht helfen können.” Erfreut nahm die Hexe den Kuchen entgegen und bat sie herein. “Dann bist du ihre Enkelin, die tapfere Ritterin? Tilda hat viel von dir erzählt. Nenn mich doch Phyllis. Aber ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann. Ich habe mich beruflich umorientiert.” Mina sah sich um. Der Raum sah aus wie eine Mischung aus Apotheke und Medizinlabor. Regale voller dickbauchiger Flaschen, geheimnisvoller Glas-Apparaturen und sorgfältig beschrifteter Schubladen ragten bis zur Decke empor. Die Edelstahl-Tische waren blitzblank geschrubbt und an der Wand verkündete ein Neon-Schild “Phyllis Naturkosmetik”.

Wie sich herausstellte, hatte die Hexe der Zauberkraft vor vier Jahren den Rücken zugekehrt und begonnen, statt Zaubertränken Gesichtscremes herzustellen. Mina konnte es nicht fassen. Alle magischen Utensilien seien verkauft, das hätte ja eh keine Zukunft. Mina war so enttäuscht, dass Phyllis sie schließlich mit auf den Dachboden nahm. Eine dicke Staubschicht lag auf den Kisten und Koffern, zwischen denen die Hexe herumkramte und schließlich triumphierend mit Spinnweben im Haar und einem Kochlöffel in der Hand zurückkehrte: “Na bitte! Ich wusste doch, dass ich mich von dem guten Stück nicht trennen konnte. Das habe ich damals auf einer Studienfahrt geschenkt bekommen. Von einer ganz zauberhaften Hexe in Italien. Wir verbrachten endlose Abende damit Rotwein zu trinken und über Magie zu diskutieren. Zum Abschied schenkte sie mir diesen Löffel. Ach, das waren Zeiten…”, wehmütig drehte die Hexe den Löffel zwischen den Fingern. “Wenn er dir so viel bedeutet”, begann Mina, aber die Hexe winkte ab. “Firlefanz!”, energisch drückte sie Mina den Löffel in die Hand und scheuchte sie die Leiter hinunter, “Sie hätte gewollt, dass du ihn nimmst.”

Die Hexe bot ihnen ihren Besen an, den Mina dankend annahm. Dann hatte sich der Besuch wenigstens etwas gelohnt. Phyllis programmierte den Besen so, dass er automatisch den Weg zurück finden würde, sobald er sie abgesetzt hatte, dann eilte sie noch einmal ins Haus. “Hier, das ist mein Probierset! Alles bio und selbstgemacht, mit viel Liebe und garantiert ohne Zusatzstoffe oder Zauberkraft!” Sie sah so stolz aus, dass sich Mina nicht traute, das in Seidenpapier eingeschlagene Päckchen abzulehnen. Sie stopfte es zu dem Kochlöffel in ihre Tasche, bedankte und verabschiedete sich und der Besen hob ab. “Wenn es dir gefällt, folg mir doch auf Instagram!”, rief die Hexe ihr noch hinterher.

Rabenpfote musste sich dreimal übergeben, bis der Besen endlich wieder landete. Auch Mina war ziemlich schlecht und sie war froh, festen Boden unter den Füßen zu haben. Bis zu den Drachenhöhlen mussten sie nur noch ein kleines Stück laufen, doch sie kamen nicht weit: Ein Zwerg mit einem zotteligen Bart, der bis zum Boden reichte, versperrte ihnen den Weg. “Passwort?”, knurrte er und piekste Mina mit seinem knochigen Finger in den Bauch. “Äh… ‘Bitte’?”, versuchte es Mina, aber der Zwerg schüttelte den Kopf. “1-2-3-4”, schlug Rabenpfote vor. Der Zwerg schnaubte verächtlich: “Ihr wollt mich wohl für dumm verkaufen?”

Alles Bitten und Betteln half nichts, der Zwerg wollte sie nicht durchlassen. “Wir könnten es von der anderen Seite probieren”, schnurrte Rabenpfote Mina ins Ohr. Die stöhnte, ohne den Besen würden sie Stunden brauchen. Seufzend ließ sie sich ins Gras fallen. Dabei fiel eine Fläschchen aus Phyllis’ Probierset aus ihrer Tasche und rollte dem Zwerg vor die Füße. Neugierig hob er es auf: “Was ist denn das?”

Plötzlich hatte Mina eine Idee. “Dein Bart ist wirklich beeindruckend!”, sagte sie mit schmeichelnder Stimme, “Ich wollte mir auch immer einen Bart stehen lassen, aber er wäre nie so eindrucksvoll wie deiner!” Der Zwerg strich sich verlegen über die verfilzten Strähnen. “Bestimmt beneiden dich alle anderen Zwerge darum”, fuhr Mina fort und kramte beiläufig in ihrer Tasche, “Du lässt ihn wahrscheinlich schon seit Jahrhunderten wachsen. Wie hält man eine solche Haarpracht denn in Schuss?” Der Zwerg fingerte einen kleinen Käfer aus seinem Bart und wurde rot: “Seitdem ich hier arbeite… du weiß ja, wie das ist! Ich muss morgens früh anfangen, da bleibt keine Zeit für Bartpflege… 100 Bürstenstriche, sagte mein Opa immer, aber wer hat dafür heutzutage noch so viel Zeit, frage ich dich!” Mina nickte mitfühlend und reichte dem Zwerg ein kleines Döschen. ‘Seidenglanz’ stand auf dem Deckel. “Das ist eine Kämm-Lotion”, erklärte sie dem Zwerg und wühlte weiter in ihrer Tasche. “Mal sehen… hier ist noch eine Pflegepackung ‘Frische Feuchtigkeit’, ein Fläschchen Bartöl ‘Glänzender Auftritt’ und natürlich auch noch eine Augenbrauen-Maske ‘Handzahm’. Alles bio!” Der Zwerg betrachtete staunend die Döschen und Tiegel. “Und wie viel kostet das?”, fragte er besorgt. “Das Probierset ist natürlich gratis”, lächelte Mina, “Und wenn du zufrieden bist, gibt dir Phyllis sicherlich einen Rabatt, wenn du meinen Namen erwähnst.” “Vielen Dank”, stotterte der Zwerg gerührt, “Dafür bin ich dir einen Gefallen schuldig!” “Prima!”, sagte Mina erleichtert.

Wenig später erreichten sie endlich die Drachenhöhlen. Mina straffte die Schultern und prüfte, ob sich das Schwert leicht ziehen ließ. Jetzt war es soweit. Sie holte tief Luft. Da bewegte sich etwas in der Dunkelheit der Höhle. Eine schlaksige Gestalt näherte sich. “Nicki!”, rief Mina erleichtert und lief der Person entgegen. Die beiden Geschwister umarmten sich. “Zum Glück hab ich dich so schnell gefunden! Wir machen uns gleich auf den Rückweg! Wenn wir uns beeilen-” “Moment mal”, sagte Nicki und löste sich aus ihrer Umarmung. Ärgerlich verschränkte xier die Arme. Mina schluckte, jetzt war es wirklich soweit.

Und Nicki legte los: “Weißt du, ich hätte schon misstrauisch werden müssen, als du mich zum ‘Überraschungspicknick’ eingeladen hast. So nett bist du sonst nie. Als ich dann ganz alleine auf der Lichtung stand, hab ich mir schon gedacht, dass du mich reingelegt hast. Ich wollte gerade wieder gehen, als plötzlich der Drache auftauchte. Ich hatte natürlich schreckliche Angst und der Drache war auch nicht gerade erfreut, als sich herausstellte, dass ich mich gar nicht freiwillig fürs Praktikum gemeldet hatte. Aber dann erzählte er mir, dass in der Drachenküche gerade Personal fehlt und da haben wir beschlossen, zur Abwechslung mal dich reinzulegen.”

Mina wurde knallrot. “Das war nicht so geplant”, murmelte sie, “Du solltest den Drachen gar nicht treffen. Du solltest ihn nur anlocken, damit ich…” “Damit du endlich eine ruhmreiche Tat vorweisen kannst.” Mitleidig schüttelte Nicki den Kopf. “Aber sie hat sich verlaufen”, schnurrte Rabenpfote, der mal wieder im unpassendsten Moment auftauchte, und rieb seinen Kopf an Nickis Bein. Nicki grinste, dieses Detail hatte xier bisher noch nicht gekannt. “Weißt du, es gefällt mir hier ganz gut”, fuhr Nicki fort, “Die Drachen sind nett und haben mir eine Ausbildung in der Drachenküche angeboten. Ich glaube, ich bleibe einfach hier.” Entsetzt starrte Mina xien an. “Das geht nicht! Die reißen mir zu Hause den Kopf ab!” Nicki zuckte die Schultern. “Dein Problem. Wie willst du mich aufhalten? Mit deinem blöden Schwert vielleicht?”

Bisher hatte sich Mina geschämt, aber jetzt wurde sie wütend. “Du kommst mit!”, fauchte sie, “Weißt du eigentlich, was ich deinetwegen durchmachen musste? Ich musste einem Zwerg Haarpflegetipps geben, mit einem Wolf Kuchen essen und mir Liebesgeschichten von einer Hexe im Knäckebrothaus anhören! Du kommst mit”, sie griff in die Tasche, “So wahr ich diesen Kochlöffel halte!” Nickis Augen leuchteten auf: “Ein echter italienischer Hexenlöffel? Aus Olivenholz? Das ist ja stark! Darf ich mal sehen?” Mina war so verblüfft, dass sie sich den Löffel aus der Hand nehmen ließ. Nicki fuhr verzückt mit den Fingern über das gemaserte Holz: “Handgeschnitzt!” Dann blickte xier auf. “Na gut. Fürs Wochenende komme ich mit. Aber nur unter zwei Bedingungen!” Mina nickte zögernd. “Erstens: Ich darf den Kochlöffel behalten!” Mina nickte eifriger. “Und zweitens… Du musst zu Hause erzählen, dass ich dich aus den Fängen der Drachen gerettet habe!” Mina biss sich auf die Lippe. Dann nickte sie. Ihre Rückkehr als Heldin hatte sie sich anders vorgestellt. Aber dafür würden sich in Zukunft bestimmt andere Gelegenheiten bieten.

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