José starrt in den Himmel. Der Mond scheint, die Sterne glitzern, auf dem Deich schnarchen die anderen Schafe. Nur José ist hellwach. Er wälzt sich hin und her, aber überall piekst das Gras oder drückt ein Steinchen. Wie soll man so schlafen können? José rappelt sich auf. Wenn er sowieso nicht schlafen kann, kann er genauso gut zum Strand gehen und schauen, ob die Möwen Tin und Theo noch wach sind.
José schleicht an den Schafen vorbei und quetscht sich durch das Loch im Zaun. Der Strand liegt ruhig und verlassen da, sogar das Meer ist still und wellenlos. “Theo?”, flüstert José, “Tin? Seid ihr da?” Nichts.
“Hallo? Tin? Theo?”
“José?”, krächzt es verschlafen von einem der Strandkörbe, “Was machst du denn hier?”
“Zum Glück seid ihr wach”, flüstert José, “Ich kann nicht einschlafen!”
“Ich hab bis jetzt ganz gut geschlafen”, grummelt Tin und flattert vom Strandkorb. “Es ist mitten in der Nacht!”
“Weiß ich, darum bin ich doch hier”, erklärt José, “Ich kann nicht einschlafen, hab ich doch gesagt!”
“Achso”, gähnt Tin und reibt sich mit dem Flügel die Augen, “Hast du es schon mit Schäfchen zählen versucht?” José schüttelt den Kopf. “Schäfchen zählen, das hilft bei mir immer”, nickt Tin und gähnt noch einmal. “Damit bist du in Nullkommanix eingeschlafen. Und jetzt Gute Nacht!” Die Möwe flattert davon.
Komischer Ratschlag, denkt José und kriecht zurück durch den Zaun.
Eine Weile später steht er wieder vor dem Strandkorb: “Hey, Tin! Psst, Tin!”
“Was ist denn jetzt schon wieder?”, grummelt Theo, die dieses Mal den Kopf hervorstreckt. “Wolltest du nicht Schäfchen zählen?”
“Doch, hab ich ja schon! Es sind 48 Schafe und 27 Lämmer. Und was mach ich jetzt?”
Theo starrt José an. Dann fragt sie: “Du hast tatsächlich die Schafe gezählt?” José nickt. Theo seufzt und gähnt. “Meine Eltern haben mir immer ein Gute-Nacht-Lied vorgesungen, was hältst du davon?” José kuschelt sich in den Sand und die Möwe beginnt. Das Lied handelt von einer kleinen Möwe, die nicht schlafen kann und nachts weit aufs Meer hinausfliegt und dann in einem Sturm verschwindet. José liegt mit weit aufgerissenen Augen und klopfendem Herzen im Sand. Als das Lied vorbei ist, räuspert sich Theo verlegen. “Mir hat das Lied als Küken immer gut gefallen. Meinst du, dass du jetzt schlafen kannst?” José schüttelt den Kopf, überlegt es sich dann anders und nickt. Wer weiß, was die Möwe noch für schreckliche Lieder kennt. Tin lugt über den Rand des Strandkorbs. Er hat Tränen in den Augen. “Wa-as für ein sch-sch-schönes Lied”, schluchzt er. “Das hat mein Opa Fischflügel mir immer vorgesungen, wenn ich krank war und mir Tee mit Honig gemacht. Es hat noch mehr Strophen, ich sing sie dir vor, wenn du magst-”
“Tee mit Honig?”, wechselt José schnell das Thema, “Was ist denn das?”
“Warmes, süßes Wasser, mit Kräutern drin”, erklärt Theo und reicht Tin ein ziemlich dreckiges Taschentuch. Tin schnäuzt sich geräuschvoll den Schnabel. Das klingt ziemlich aufregend, findet José, er hat noch nie Tee getrunken. “Damit könnte ich bestimmt gut schlafen!”
Theo verdreht die Augen. “Wo zum fauligen Tintenfisch sollen wir denn um diese Uhrzeit Tee herbekommen? Soll ich dir nicht lieber noch ein Lied vorsingen?” Aber José schaut die Möwen mit großen, unschuldigen Schafsaugen an. “Bitte? Damit kann ich bestimmt einschlafen, wolliges Ehrenwort!” Tin seufzt und schüttelt die müden Flügel. “Ich schau mal, was ich tun kann. Aber du gehst zurück und wartest beim Deich!”
José kriecht durch das Loch im Zaun, kuschelt sich neben Schaf Nummer 19 und lauscht dem gleichmäßigen Schnarchen. Wann Tin wohl mit dem Tee kommt? Ob die kleine Möwe aus dem Lied wohl wieder nach Hause findet? José hat schon viele Möwen im Sturm beobachtet und sich immer gewünscht, auch fliegen zu können. Dann würde ich auch aufs Meer fliegen, denkt José und gähnt. Bis zum Horizont! Oder bis zum Mond. José gähnt wieder und reibt sich die Augen. Hoffentlich kommt die Möwe bald mit dem Tee, damit er endlich schlafen kann. José schließt die Augen und stellt sich vor, wie er mit den Möwen übers Meer fliegt, immer höher und immer weiter …
***
“Hey, José”, zischt Tin. “Wir haben weder Honig noch Kräuter gefunden, aber hier ist ein Becher Meerwasser mit Algen. Theo meint, das hilft auch. Wo bist du?”
Keine Antwort.
“José?”
Nur leises Schnarchen. Tin schüttelt ärgerlich den Kopf. “Undankbare Schafe”, knurrt er und flattert leise schimpfend zurück. Wenig später klingt die krächzende, dritte Strophe vom Möwenlied über den Strand. Sie handelt von der kleinen Möwe, die bis zum Mond fliegt und von dort aufs Meer aufs Meer hinunter sieht. Dann ist nur noch das Schnarchen der Schafe zu hören.