Blind im Dunkeln

“Hey Sam! Psst, Sam!”

Das ist Yaniz, er hat versucht, sich anzuschleichen. Immer wenn Yaniz sich konzentriert, atmet er so laut, dass Sam ihn schon von weitem hört. Trotzdem tut Sam so, als ob xier überrascht zusammenzuckt. Das ist nur geschauspielert, aber freut Yaniz trotzdem. 

„Nicht erschrecken, ich bin’s doch nur! Hey Sam, wir haben einen geheimen Plan!“ 

Yaniz flüstert so laut, dass Sam ihn bis zu den Bergen hören könnte. Sein Atem kitzelt in Sams Ohr. 

„Heute Nachmittag schleichen wir uns in die Tropfsteinhöhle!“, zischt er. Jetzt zuckt Sam wirklich zusammen. 

„In die Tropfsteinhöhle?“, wispert Sam zurück, „Wir verlaufen uns doch schon im ersten Tunnel!“

„Was?“, flüstert Yaniz lautstark, „Ich versteh nichts, wenn du so nuschelst. Weißt du noch, der Schulausflug letzte Woche? Tari hat auf dem Weg Kreidezeichen an die Wand gemalt, damit wir den Weg wiederfinden! Ganz schön schlau, was?“

Tatsächlich ganz schön schlau, das muss Sam zugeben. Darum war sie also immer hinter der Gruppe, normalerweise ist sie die Allererste. 

„Also bist du dabei?“, Yaniz’ Stimme kippt fast vor Aufregung. Sam ist mulmig zumute. Xier denkt an die Höhle. Die Steine, die vom Boden heraufwachsen, heißen Stalakmiten. Sie fühlen sich kalt und glatt an und manche sind nass von dem Wasser, was von der Decke tropft. Stalaktiten hängen von der Decke, die konnte Sam nicht berühren, aber Yaniz hat sie xiem beschrieben. Manchmal wachsen Stalakmiten und Stalaktiten zusammen und bilden eine Säule, so hoch wie die Höhlendecke. Überall tropft Wasser. Sam hätte dem Tropfkonzert gerne gelauscht, aber die anderen waren so laut, dass das leise Pitschern und Plätschern kaum zu hören war. 

Yaniz reißt Sam aus den Gedanken: “Liam hat gesagt, du traust dich nicht, aber ich hab gesagt, du kommst auf jeden Fall mit!“ 

Sam gibt sich einen Ruck und nickt. 

„Super!“, ruft Yaniz, an Flüstern ist nicht mehr zu denken, „Wir treffen uns am Höhleneingang, ich hol dich ab!“

***

Tari und Liam kommen zu spät. Yaniz hüpft nervös auf und ab, als Sam endlich ihre Schritte hört. Yaniz hört sie auch und zieht Sam eilig hinter einen Stein. „Was soll das?“, schimpft Sam und reibt sich den Arm. „Du weißt doch gar nicht, wer das ist!“, zischt Yaniz und drückt Sam hinter sich an den Stein. Das nasse Moos klebt an xiesem Fell. Sam verdreht die Augen. Taris Schritte erkennt man von weitem, sie hüpft nämlich beim Laufen. Tippi-tap machen ihre Schritte, Tippi-ti-tapp-tapp, wenn sie aufgeregt ist, so wie jetzt. 

Sie ist ziemlich stolz auf ihre Idee, das merkt man ihr an. „Hier ist das nächste Zeichen“, wispert sie Sam jedes Mal zu, wenn sie an einem vorbei laufen. Sam nickt nur und zählt die Schritte. Links abbiegen, 27 Schritte, rechts abbiegen, 17, nochmal rechts, 45, wieder links. In Sams Kopf entsteht eine Karte, aber der Weg zur Höhle ist weit und kompliziert. Ohne die Kreidezeichen würde Sam sich niemals so weit wagen. Endlich verändert sich der Hall ihrer Schritte, als sie den großen Raum betreten. Sam hört die anderen nach Luft schnappen. Ein leichter Wind weht ihnen entgegen, Sam fröstelt. Wortlos schleichen sie in die Höhle. Das ist Sam ganz recht. Endlich Zeit, dem Tropfen zu lauschen. Langsam tastet Sam sich von Stein zu Stein. Yaniz bleibt ganz in der Nähe und atmet schnell, er ist wohl aufgeregter, als er zugeben will. Tari und Liam sind weiter hinten in der Höhle, mit den Taschenlampen. Kein Wunder, dass Yaniz aufgeregt ist, ohne Taschenlampe muss es für ihn ganz schön dunkel sein. Sams Pfoten streichen über die Steinsäulen. Jeder Stein fühlt sich anders an. Dieser hat einen Riss, der vom Boden bis zu Sams Kopf reicht, eine ganze Pfote passt hinein. Sie werden größer, je weiter sie sich in die Höhle tasten und fühlen sich irgendwie älter an. Manche haben große Beulen und sind ganz glatt, andere sind rau und und pickelig. 

„Geht das nicht schneller?“, flüstert Yaniz, seine Stimme zittert. 

„Geh ruhig vor“, murmelt Sam und tastet über eine Nische, in der ganz viele kleine Stalakmiten wachsen, wie ein winziger Wald. „Ich hör euch gut.“

„Alleine? Auf gar keinen Fall.“ Sam hört das Rascheln, als Yaniz sich die Pfoten reibt. Und dann hört er noch etwas.

„Was ist?“, piepst Yaniz und ist mit einem Satz bei Sam, „Hörst du was? Was ist da? So guckst du nur, wenn du etwas hörst!“ 

„Ich hör gar nichts, wenn du so schreist“, ärgerlich schiebt Sam Yaniz zur Seite, aber jetzt hört Yaniz es selbst. Ein Grummeln und Grollen. „Ein Steinschlag! Nichts wie weg hier!“, brüllt Yaniz und rennt los, Sam zieht er hinter sich her. „Hier rüber!“ ruft Tari, „Es kommt von dahinten!“ Yaniz rennt weiter, Sam stolpert hinterher. 27, 28, scharf rechts, links, sind sie einer Säule ausgewichen? 29, 30, 31, das Rumpeln wird von den Höhlenwänden zurückgeworfen. 32, wieder links, nochmal links – nochmal links? „Bleib stehen, wir laufen im Kreis“, keucht Sam, aber Yaniz hört nicht zu und rennt weiter, bloß weg vom Steinepoltern, das jetzt von überall zu kommen scheint. Neben ihnen hört xier Tari und Liam schwer atmen. „Es ist das Echo, wir laufen im Kreis“, ruft Sam und bleibt keuchend stehen. Das Rumpeln wird leiser. „Das Echo macht alles lauter“, erklärt Sam, ganz außer Atem. Die anderen schnappen nach Luft und antworten nicht, deshalb redet xier einfach weiter: „Die Wände werfen die Geräusche zurück. Vielleicht haben wir sogar nur uns selbst gehört.“

„Mir egal, was wir gehört haben“, jammert Yaniz, „Ich will jetzt nach Hause!“ Er stapft los, aber Tari ruft ihm hinterher, „Das ist die falsche Richtung! Der Ausgang ist dahinten!“ Liam unterbricht sie, „So ein Quatsch! Wir sind doch von dort gekommen!“

Sam spürt, wie die Luft schwer wird, als Yaniz Schritte verstummen. „Wir haben uns verlaufen“, sagt er langsam, betont ruhig, aber Sam hört, wie viel Angst er hat. „Haben wir nicht“, widerspricht Tari und Sam hört, dass auch sie Angst hat. Sam hört ein Klappern, das ist Liam, er schüttelt die Taschenlampe. „Ich glaube… ich weiß nicht, wie lang die Batterie noch hält.“ Seine Stimme zittert. Sam spürt, wie die Angst auf sie drückt. Ohne die Taschenlampe können sie die Kreidezeichen nicht lesen. Sam holt tief Luft. “Mach die Taschenlampe aus”, sagt xier. “Du spinnst ja!”, ruft Yaniz, “Ich will hier nicht im Dunkeln sitzen! Wir teilen uns auf, ich suche da drüben, Tari dort und Liam dahinten. Du bleibst hier.” “Wenn das Licht ausgeht, finden wir uns nie wieder”, Sams Herz klopft wie wild, “Das Echo verzerrt alles. Wir müssen zusammenbleiben. Ich finde den Weg zum Ausgang auch ohne Licht, ihr könnt euch an mir festhalten.” Schweigen. “Bist du sicher?”, fragt Liam. Sam nickt, obwohl das nicht ganz stimmt. „Ich kann den Ausgang aus der Höhle finden“, sagt Sam langsam und hoffentlich selbstsicher klingend, „aber nicht den ganzen Weg zurück. Und die Kreidezeichen kann ich nicht ertasten, die müsst ihr sehen.“ Schweigen. Dann spürt Sam Taris Hand auf der Schulter. „Na los“, sie klingt entschlossen. „Alle anfassen und Licht aus!“

Sam lässt sich Zeit. Sie sind nicht weit vom Ausgangspunkt entfernt, da ist xier sich sicher. Sobald sie die Nische mit dem kleinen Säulenwald findet, ist alles gut. Die anderen stolpern über ihre Pfoten und stoßen sich die Köpfe, das Echo ihrer Schritte hallt von den Wänden wieder. Sams Pfoten tasten über glatte und raue Steine, sie platschen durch Pfützen und streichen über Risse und Spalten. Da! Ein Riss, der größer ist als die anderen. Sam beugt sich bis zum Boden und fährt den Riss entlang. Genau bis auf Kopfhöhe. Eine Pfote breit. Dann müsste hier … noch eine bekannte Stelle. Ein Buckel im Stein, so glatt wie Glas. “Hast du was gefunden?”, flüstert Tari. Sam nickt, dann fällt xiem ein, dass die anderen auch nichts sehen. “Ja”, sagt Sam, “Ich glaube schon.” Drei Schritte weiter, auch hier ertasten xiese Pfoten Bekanntes. Sam geht schneller, die anderen stolpern hinterher. Eine Kante, so scharf, dass Sam sich fast schneidet, hier ist eine Säule abgebrochen. Das Stück liegt etwas weiter vorne, ein Baumstamm aus Stein, auf dem schon neue Stalakmiten wie Pilze wachsen. Die Steine werden kleiner und Sam spürt einen Lufthauch. Xier schnalzt mit der Zunge und lauscht. Sie stehen vor einer Wand. Etwas weiter rechts vielleicht? Das Schnalzen hallt zurück, noch mehr Höhlenwand. Noch ein Stückchen, noch ein kleines bisschen, dann … “Hier”, Sam bleibt stehen. “Mach die Taschenlampe an.” 

Es klickt und Sam hört am Aufatmen, dass sie richtig sind, noch bevor Yaniz xiem um den Hals fällt. “Du bist große Klasse!”, jubelt er und Liam und Tari stimmen zu. Sam spürt, wie xier rot wird. “Jetzt lasst uns schnell raus, bevor die Taschenlampe wirklich ausgeht”, sagt xier verlegen. Sie huschen eilig durch die Tunnel zurück. Sam spürt, wie die Luft wärmer wird, kurz bevor die anderen jubelnd das Tageslicht entdecken. Draußen steht die Sonne tief, aber die Luft ist noch warm und riecht nach Blumen und Kiefernnadeln. Die Vögel zwitschern und der Wind rauscht in den Bäumen. Sam lässt sich ins Gras fallen, Yaniz plumpst daneben und boxt xien in die Seite. “Das war stark!”, ruft er, “Du hast echt Superkräfte!” “Ja, mit dir könnten wir das ganze Tunnelsystem erforschen”, stimmt Liam zu. “Und nach Schätzen suchen!”, ruft Tari. “Ohne mich!”, brummt Yaniz, dem der Schreck noch in den Knochen sitzt. “Außer wir markieren den Weg mit Hammer und Meißel statt mit Kreide.” Darüber müssen alle lachen. Und dann machen sie sich auf den Weg nach Hause. 

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