Kim und der Flaschenpost-Geist

Das ist Kim. Kim verbringt die Ferien bei Papa am Strand. Kims Papa hat zwei Haustiere: Bertha, ein etwas streng riechendes Schaf und Jaspar, einen Pelikan, der alles frisst, was in seinen Schnabel passt. Zum Glück ist Kim inzwischen größer als Jaspar. Eines Tages am Strand entdecken sie etwas merkwürdiges … aber ich will lieber noch nicht zu viel verraten!

Vielleicht fragst du dich jetzt, ob Kim ein Mädchen oder ein Junge ist. Das weiß ich auch nicht und deshalb benutze ich statt “er” oder “sie” lieber das geschlechtslose “xier” (gesprochen “ksier”), wenn ich über Kim spreche.

Heute hat Mama Kim zu Papa gebracht, hier wird xier die nächsten drei Wochen verbringen. Und jetzt geht die Geschichte endlich los… 

Zu Hause angekommen macht Papa Bratkartoffeln und Spiegeleier, dabei erzählt er Geschichten von Seeräubern und Piratinnen. “Gehen wir noch zum Strand?”, fragt Kim zwischen zwei Bissen. “Jetzt noch?”, stöhnt Papa, “du kannst doch ab morgen noch jeden Tag zum Strand!” Aber Kim will unbedingt noch vorm Einschlafen das Meer sehen und weil es der erste Abend ist, lässt Papa sich breitschlagen. Kim rennt so schnell durch den Sand, dass Papa kaum hinterherkommt. Die Nacht ist sternenklar und über dem Wasser leuchtet ein heller Mond. Es ist so schön, dass Kim den Atem anhält. Xier könnte noch stundenlang am Strand bleiben, aber Papa wird bald kalt und sie gehen zurück. Vor dem Einschlafen ruft Kim noch schnell Mama an, um ihr vom Meer und vom Mond zu erzählen, dann schläft xier ein, während draußen die Wellen rauschen.

Die nächsten Tage verbringen Kim, Bertha und Jaspar am Strand, Papa muss arbeiten. Sie suchen Muscheln, fangen Krabben und bauen riesige Sandburgen. Es sind die schönsten Sommerferien, die man sich überhaupt vorstellen kann. Doch dann schlägt das Wetter um und Kim wird morgens vom Regen geweckt, der an die Fenster trommelt. Verschlafen tapst xier in die Küche. Papa ist schon wach und hat Kakao gekocht. “Ich fahr gleich einkaufen, möchtest du mitkommen?” Kim schlürft die dampfende Schokolade und schüttelt den Kopf. Xier hasst einkaufen, dann lieber bei Regen an den Strand. Bertha und Jaspar warten schon auf xien. 

Draußen peitscht ihnen der Regen ins Gesicht. “Hey, nicht so nah ans Wasser”, schimpft Kim und versucht Bertha von den Wellen fernzuhalten. Das störrische Schaf scheint ausgerechnet heute Lust auf einen Badetag zu haben. Auch Jaspar schlägt aufgeregt mit den Flügeln und verdreht den langen Hals. Da sieht auch Kim, was die beiden entdeckt haben: In den Wellen tanzt eine Flaschenpost!

Sofort schlägt Kims Herz höher. Vergessen ist das schlechte Wetter, xier zieht sich die Schuhe aus und krempelt die Hose hoch, aber die Wellen sind zu hoch, um ins Wasser zu waten. Die Flaschenpost wird immer wieder Richtung Strand gespült – aber sobald das Wasser zurückströmt, verschwindet sie wieder. Jaspar hüpft aufgeregt auf und ab, aber auch er traut sich nicht in die Fluten. Da hat Kim eine Idee. Gestern haben sie eine Angel gebaut, die Schnur ist noch in xieser Hose. Kim bindet das eine Ende um Berthas Bauch, das andere um Jaspars. Jetzt kann der Pelikan losflattern. Die Wellen klatschen immer noch an den Strand, Kim beißt die Zähne zusammen. Xier ist schon ganz nass von der Gischt und der Wind ist eiskalt. Die nächste Welle rollt heran. “Jetzt!”, ruft Kim, die gierigen Pelikanaugen erspähen die Flasche und Jaspar sperrt den Schnabel auf – dann bricht die Welle genau über ihm zusammen. Bertha zieht ihn an den Strand. “Ihr seid großartig!”, ruft Kim und drückt den pitschnassen Vogel an sich. Der spuckt und hustet, bis die Flasche mit einem Schwall schleimigen Meerwasser auf dem Sand landet. 

Die Flasche ist aus meerwasserblauem Glas und sieht sehr, sehr alt aus. Vorsichtig hebt Kim sie auf. Sie ist merkwürdig schwer und scheint von innen heraus zu leuchten. Der verwitterte Korken lässt sich leicht lösen. Kim dreht die Flasche um und heraus fällt – nichts. Die Flasche ist leer. 

Verwirrt klopft Kim auf den Flaschenboden. Ein bisschen Sand rieselt heraus. Ziemlich viel Sand sogar. Es wird immer mehr! Erschrocken lässt Kim die Flasche fallen und springt zurück, der Sand wirbelt durch die Luft wie ein kleiner Tornado. Dann gibt es einen Blitz und einen Knall und der Sandsturm ist verschwunden. Stattdessen steht vor ihnen eine riesige Frau mit breiten Schultern und einer Kapitänsmütze auf dem Kopf.

Die Mutige Molly

Sie niest und schüttelt sich den Sand aus den Haaren, dann strahlt sie Kim an und streckt xiem die riesige Pranke entgegen: “Moin, ich bin Kapitänin Margareta Wirbelwind, auch bekannt als Mutige Molly! Und mit wem habe ich das Vergnügen?” “Äh, ich bin Kim”, stottert Kim verwirrt, “und das sind Bertha und Jaspar.” Molly schüttelt höflich Hand, Klaue und Flügel, dann reibt sie sich die Hände: “Kutter-Kim, Bärtige Bertha und Jähzorniger Jaspar, es ist mir eine Ehre! Von mir aus kann es direkt losgehen! Wo liegt denn euer Kutter?” “Unser Kutter?”, fragt Kim und reibt sich fassungslos die Augen, “Wer bist du überhaupt? Und was machst du hier?” Jetzt ist es an Molly, verwirrt zu gucken. “Na dein Boot! Ist nicht bald Vollmond? Hast du die Anleitung nicht gelesen?” Kim zittert, die nassen Klamotten kleben an xieser Haut: “Welche Anleitung?” Molly wühlt hektisch mit den Händen im nassen Sand, findet die leere Flasche und lässt sie stöhnend wieder fallen. “Oh je!”, jammert sie, “die Anleitung scheint sich aufgelöst zu haben!” 

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Kurze Zeit später sitzen sie alle am Küchentisch, Papa ist zum Glück noch einkaufen. Kim hat sich umgezogen und Tee gekocht und Molly fängt an zu erzählen: 

“Ich bin die Mutige Molly, ehemals Kapitänin der Pantoffel-Pirat:innen. Wenn wir ein Schiff kaperten, ließen wir der Besatzung nur ihre Pantoffeln zurück. Wir waren auf allen sieben Weltmeeren gefürchtet. Eines Tages überfielen wir ein Schiff, das ganze Berge an Gold und Silber geladen hatte! Der Kapitän hatte ganz besonders hübsche Pantoffeln, er hatte sie einst eigenhändig mit Juwelen bestickt. Ich hatte geschworen, niemals Pantoffeln zu rauben, aber wir wollten zur Feier des Tages einen Maskenball veranstalten und dieses Paar passte ganz hervorragend zu meinem Kostüm. Ich wollte sie nur ausleihen und direkt am nächsten Tag zurückschicken, wirklich! Aber irgendwie kam immer etwas dazwischen… Als der Kapitän nach einem Jahr seine Pantoffeln immer noch nicht wieder erhalten hatte, verfluchte er mich. Weil ich meinen Schwur gebrochen hatte, verwandelte er mich in einen Flaschengeist! Ich sollte solange über die Weltmeere treiben, bis jemand mich finden und mir helfen würde. Sobald die Flasche geöffnet wird, muss ich die Pantoffeln ins Meer werfen: Dort, wo sich am Horizont der Vollmond spiegelt, um Punkt Mitternacht. Nur so kann ich dem Kapitän sein rechtmäßiges Eigentum zurückzugeben, mit einer Flasche Rum als Entschuldigung obendrauf.” 

Molly lehnt sich erschöpft zurück und wühlt in ihren Taschen herum. “Es gibt da nur ein kleines Problem: Du hast kein Schiff, mit dem ich zum Horizont segeln könnte. Und dann wären da noch die Pantoffeln”. Mit diesen Worten legt sie ein kleines Päckchen auf den Küchentisch: “Ich fürchte, sie haben die letzten 600 Jahre nicht besonders gut überstanden.” Fassungslos starrt Kim auf die zerfledderten Hausschuhe. Sie sehen aus, wie etwas, das erst in Jaspars Schnabel und dann unter Berthas Klauen geraten ist. “Und noch etwas”, Molly rutscht unruhig auf der Küchenbank hin und her, “Eigentlich stand das auch in der Anleitung, aber die scheint ja verloren gegangen zu sein…” “Spuck’s endlich aus”, stöhnt Kim, “Schlimmer kann es ja kaum werden!” “Tja, vielleicht doch”, Molly windet sich, “Wenn ich es nicht schaffe, die Pantoffeln zurückzugeben dann… dann werdet ihr ebenfalls in die Flasche gesperrt, bis es jemand anderes versucht.” “Was?”, schreit Kim auf, “Wir landen auch in der Flasche?” “Wahrscheinlich hat es deshalb bisher noch niemand versucht”, murmelt Molly, “der Kapitän war damals wirklich sauer…” 

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“Du Papa, wann ist eigentlich Vollmond?”, fragt Kim beiläufig und rutscht vom Stuhl, um xiesen Teller in die Spülmaschine zu bringen. Es gab Kartoffelgratin, davon kann Kim eigentlich gar nicht genug bekommen. Aber heute will xier schnell aufs Zimmer, da wartet nämlich Molly in ihrer Flasche. Kim hat Papa lieber nicht erzählt, dass sie einen Flaschengeist zu Besuch haben. “Schmeckt dir das Gratin nicht?”, fragt Papa verwundert. “Doch, aber ich hab vorhin schon was gegessen”, erklärt Kim und beugt sich tief über die Spülmaschine, damit Papa nicht sieht, das xier rot wird. “Weißt du, wann wieder Vollmond ist?” “Du stellst Fragen”, seufzt Papa und greift nach der Lesebrille und seinem Handy, “Mal sehen… oh, du hast Glück: Der nächste Vollmond ist in drei Tagen.” “In drei Tagen schon?”, ruft Kim erschrocken. Papa sieht überrascht auf: “Ist das ein Problem?” “Nein, überhaupt gar kein Problem”, sagt Kim schnell und drückt sich an Papa vorbei, “Ich geh dann mal auf mein Zimmer, gute Nacht!” “Es gibt noch Nachtisch”, ruft Papa, aber Kim ist schon verschwunden.

Als xier im Bett liegt, hat sich der Sturm verzogen. Molly schläft in ihrer Flasche. Der Himmel ist wieder sternenklar und der Mond scheint ins Zimmer. Er ist wirklich schon ziemlich rund. Nur noch drei Tage. Drei Tage, um ein Schiff zu finden und die Pantoffeln zu flicken. Wenigstens haben sie im Küchenschrank eingelegte Rumrosinen gefunden, Molly meinte, die würden zur Not auch reichen. “Morgen frag ich Papa, ob er flicken und stopfen kann”, denkt Kim noch, dann fallen xiem die Augen zu.

Schulmeister im Handarbeiten
Noch drei Tage bis Vollmond

“Du willst sticken?”, fragt Papa verblüfft, “bei dem schönen Wetter?”. “Ja, ein Geschenk für Mama, wenn ich wiederkomme”, erklärt Kim beiläufig, die Ausrede ist xiem beim Zähneputzen eingefallen. “Na, da hast du aber Glück, denn vor dir steht der ehemalige Schulmeister im Handarbeiten!”, Papa strahlt übers ganze Gesicht und springt auf, “Wo hab ich es denn nur… irgendwo hier muss doch noch… aha!” Triumphierend zieht er einen kleinen Beutel aus der hintersten Ecke des Wohnzimmerschranks und breitet den Inhalt vor Kim auf dem Tisch aus. Faden und Garn in allen Farben des Regenbogens, ein hübsch besticktes Etui mit Sticknadeln, eine winzige goldene Schere und das allerbeste: Ein Döschen mit glitzernden Perlen und Pailletten. Staunend lässt Kim die Finger darüber gleiten: “Das wusste ich ja gar nicht!” “Ich hab mir selbst Nähen beigebracht, weil ich unbedingt als Nixe auf das Schulfest gehen wollte”, verrät Papa und seufzt wehmütig. “Ich hatte mir einen langen grünen Fischschwanz gebastelt, auf den ich hunderte Pailletten gestickt hatte, Stunden hat das gedauert… So hab ich übrigens deine Mutter kennengelernt”, zwinkert er Kim zu. Kim kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.  

Papa findet noch einen alten Kissenbezug zum Üben und zeigt xiem ein paar Zierstiche, dann muss er zu einem Termin in die Stadt. Kim ist das ganz recht. Sobald Papa weg ist, weckt xier Molly, die immer noch in der Flasche schnarcht. Mit Berthas Fell lassen sich die löchrigen Pantoffeln gut stopfen, Jaspar sucht die schönsten Pailletten aus und Kims Pantoffel sieht bald aus wie neu. Molly stellt sich weniger geschickt an. Nach zwei Stunden hat sie sich in jeden Finger gepiekst und völlig verheddert. “Ich kann 283 verschiedene Segelknoten, aber den Kreuzstich bekomme ich einfach nicht hin!”, schimpft sie. Kim verdreht die Augen: “Bertha, zeig Molly doch mal den Gartenschuppen. Da liegt irgendwo noch ein kleines Ruderboot, vielleicht ist das ja eher was für deine Hände.” 

Aber sie haben kein Glück. Der Schuppen ist abgeschlossen und als Kim gerade anfangen will, nach dem Schlüssel zu suchen, hören sie Papas Schritte auf der Treppe. “Schnell, du musst in der Flasche verschwinden!”, flüstert Kim Molly zu, stopft eilig die halbfertigen Pantoffeln in den Kissenbezug und wirft alles in xies Zimmer. Gerade noch rechtzeitig. “Wie sieht es denn hier aus?”, fragt Papa und betrachtet stirnrunzelnd das Chaos. Auf dem Küchentisch liegen noch die Überreste von Mollys missglückten Nähversuchen und Kim versucht unauffällig die Sandspur zu verwischen, die direkt in xies Zimmer führt. “Ich dachte, du kommst erst später wieder”, murmelt Kim und wird schon wieder rot, obwohl das ausnahmsweise mal keine Notlüge ist. “Das räumst du bitte auf, ich hab Tante Amina zum Kaffeetrinken eingeladen”, sagt Papa streng und stellt die Kaffeemaschine an. “Na super”, stöhnt Kim. Das hat xiem gerade noch gefehlt. 

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Als Amina endlich geht, ist es draußen schon dunkel. Kim ist schlecht von dem ganzen Kuchen und zu alledem hat Papa auch noch letztes Jahr das Ruderboot verkauft. Gähnend schlurft xier in xies Zimmer und lässt sich aufs Bett fallen. “Autsch!”, was liegt denn da im Bett? Verblüfft hält Kim einen glitzernden Pantoffel ins Mondlicht. “Beim zweiten fehlen noch ein paar Perlen und Pailetten”, verlegen schwebt Molly aus ihrer Flasche. “Ich hab gehört, dass du alles alleine aufräumen musstest und da hab ich gedacht, irgendwas Nützliches muss ich auch machen…” “Der sieht super aus!”, Kim dreht den Pantoffel bewundernd hin und her, er schimmert im Mondlicht. “Bertha hat mir geholfen”, gibt Molly zu. “Du, Kim? Mir ist noch etwas eingefallen.” Kim stöhnt. “Wir müssen nicht nur bis übermorgen ein Boot finden, sondern auch noch eine Truhe voll Gold?” Molly grinst und schüttelt den Kopf. “Nein, nein”, sie räuspert sich verlegen, “Ich hab mich noch gar nicht bei dir bedankt. Bei euch meine ich. Dass ihr mir helft… Vielen Dank. Ich dachte schon, ich müsste bis in alle Ewigkeit in dieser Flasche hocken.” Kim schluckt schwer. “Ist doch selbstverständlich”, murmelt xier. Bis in alle Ewigkeiten in einer Flasche… Nein, daran will xier lieber nicht denken. 

Unangenehme Überraschungen
     Noch zwei Tage bis Vollmond

Am nächsten Morgen hat Papa eine Überraschung für Kim. “Heute machen wir einen Ausflug! Weil du doch die letzten Tage immer alleine spielen musstest.” “Das macht mir gar nichts aus”, versucht Kim ihm zu erklären, aber Papa ist fest entschlossen. “Deine Frage nach dem alten Boot hat mich darauf gebracht. Wir machen eine Hafenrundfahrt!” Papa sieht Kim so erwartungsvoll an, das xier gar nicht anders kann, als zuzustimmen. Sie müssen sich beeilen, um rechtzeitig am Hafen anzukommen. Kim schafft es gerade noch, Molly die schlechten Neuigkeiten zu überbringen. Die versucht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen: “Kein Problem, Kutter-Kim! Mithilfe der bärtigen Bertha werde ich auch den zweiten Pantoffel vollenden!”

Die Hafenrundfahrt ist sterbenslangweilig. Zweieinhalb Stunden dümpeln sie schon durch den Hafen, während der Kapitän die Namen sämtlicher Schiffe aufzählt, die hier jemals Anker geworfen haben. Außerdem schaukelt das Schiff viel zu sehr. 

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Unterdessen zu Hause kommen Molly und Bertha gut voran. Bertha beißt gerade den letzten Faden ab, als sie es in der Küche poltern hören. “Was hat dieser verfressene Vogel denn jetzt schon wieder angestellt”, grummelt Molly und stapft zur Tür…  

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Die Hafenrundfahrt ist endlich vorbei. Kim schwankt vom Schiff, der Boden scheint immer noch zu schaukeln. “Das war ja toll!”, strahlt Papa, als sie das Schiff endlich verlassen. “Unglaublich, wie viele Schiffe hier schon angelegt haben! Also ich hab Lust auf ein Fischbrötchen! Und danach holen wir uns noch ein Eis! Oder hast du mehr Lust auf heiße Schokolade? Oder vielleicht Pommes?” Bei dem Gedanken an Essen werden Kim die Knie weich. “Ich glaub, mir wird schlecht”, stöhnt xier…  

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Zu Hause betritt Molly gerade die Küche und schaut sich suchend um: “Jaspar? Was ist denn hier passiert…” Ein Küchenstuhl ist umgefallen, auf dem Boden liegen Scherben und der Boden klebt. Jaspar liegt unter dem Küchentisch in einer Pfütze und rülpst zufrieden. Bertha schnuppert und schüttelt sich. Molly kniet sich hin und schnuppert ebenfalls. “Du gieriger Vielfraß”, stöhnt sie… 

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Eine halbe Stunde später sind Papa und Kim wieder zu Hause. “Ab ins Bett mit dir”, sagt Papa und schiebt Kim in xies Zimmer, “Ich hab mir die letzten Tage schon Sorgen um dich gemacht. Sticken, bei strahlendem Sonnenschein… Was riecht denn hier so komisch?”, er schnuppert und öffnet das Fenster, “Ich mach dir jetzt einen Tee und dann schläfst du dich schön aus.”

Kaum hat Papa das Zimmer verlassen, wabert Molly aus ihrer Flasche heraus. “Du siehst ja furchtbar aus!”, ruft sie erschrocken. “Psst, nicht so laut”, flüstert Kim, “Was stinkt denn hier so?” Bertha grunzt und stupst xien besorgt mit der Schnauze an, Kim stöhnt. “Und wo ist Jaspar?” “Ich glaube, das erklären wir dir, wenn dein Tee da ist”, brummt Molly und zupft die Bettdecke zurecht.

Papa bringt Kim Tee, Zwieback und eine Wärmflasche. Als er verschwunden ist, erzählt Molly, wie sie und Bertha am zweiten Pantoffel gearbeitet und darüber Jaspar ganz vergessen haben – bis sie das Poltern aus der Küche hörten. “Das Glas mit den Rumrosinen war so klebrig, ich hab es zum Abwaschen in die Küche gebracht und dann auf dem Tisch vergessen. Da muss es Jaspar entdeckt haben. Er hat wohl versucht mit dem Schnabel den Deckel aufzuschrauben und das Glas dabei vom Tisch gestoßen. Dabei ist es zerbrochen und der ganze Rum ist ausgelaufen. Der gierige Tollpatsch hat anscheinend noch die Reste vom Boden geschlürft, dann hat es ihn im wahrsten Sinne des Wortes umgehauen. Wir mussten ihn im Kleiderschrank verstecken, weil er so laut geschnarcht hat.”

Kim vergräbt den Kopf in den Händen. Niemals werden sie es rechtzeitig schaffen. Sie haben nur noch morgen Zeit, xiem ist schlecht, es gibt immer noch kein Boot und als wenn das nicht schon genug wäre, sind auch noch die Rumrosinen aufgefressen. Molly legt unbeholfen ihren schweren Arm um xien. “Kopf hoch, Kim! Ich hätte da vielleicht eine Idee – und ausgerechnet Jaspar hat mich darauf gebracht.” Sie beugt sich vor und flüstert xiem ihren Plan ins Ohr. Kims Augen beginnen zu leuchten. “Das könnte tatsächlich funktionieren!”

Ein verzweifelter Plan
Heute Nacht ist Vollmond

Kim wird von Berthas feuchter Nase geweckt und ist sofort hellwach. Die Sonne scheint ins Zimmer. “Schon so spät?”, ruft xier erschrocken und springt aus dem Bett. Ein bisschen wackelig fühlt xier sich noch auf den Beinen, aber es geht xiem schon viel besser als gestern. Rasch schlüpft xier in xiese Klamotten und flitzt in die Küche. Papa ist anscheinend schon weg, dafür sitzt Molly am Küchentisch. Erfreut blickt sie auf und schiebt xiem einen Teller rüber: “Gut, dass du wach bist! Ich hab dir Frühstück gemacht. Komische Essgewohnheiten habt ihr inzwischen, zum Glück konnte Jaspar mir helfen.”

“Mmh, komisch”, murmelt Kim und beäugt misstrauisch den Teller. Mit spitzen Fingern fischt xier eine Lakritzschnecke zwischen den Cornflakes hervor. “Ich hab heute morgen schon Berthas Fell gestutzt und Jaspars Flügelspannweite gemessen”, fährt Molly fort, während Kim sorgfältig die Salzbrezeln aus der Müslischale sortiert. “Jaspar ist die Geschichte mit den Rosinen immer noch furchtbar peinlich, er hat die Schafwolle gekämmt und gesponnen und das Resultat kann sich sehen lassen!”, stolz schiebt sie ein kratziges Wollknäuel über den Tisch. Die Wolle kratzt schon beim Hingucken, aber sie sieht fest und stabil aus. Kim nickt, und schiebt die Müslischale unauffällig zur Seite, das Frühstück holt xier lieber später nach. Molly legt den Kissenbezug mit den Stickübungen auf den Tisch: “Und hieraus machen wir das Geschirr für Jaspar! Das heißt, mit wir meine ich eigentlich dich… ich hatte gehofft, dass du die Feinarbeiten übernimmst. Ich hatte an eine Art Weste gedacht, mit große Laschen am unteren Ende. Daran können wir das Netz mit einem Dreifachen-Flutsch-Knoten befestigen, den kann Jaspar auch im Flug leicht lösen!” Erwartungsvoll schaut sie Kim an. Kim schwirrt der Kopf, aber xier nickt langsam. “Das könnte funktionieren. Aber wie soll Jaspar mit dem Netz noch starten können? Normalerweise nimmt er Anlauf, um loszufliegen.” Molly runzelt die Stirn und reibt sich das breite Kinn. “Das lass nur meine Sorge sein. Du kümmerst dich um die Weste, Jaspar und Bertha knüpfen das Netz, und ich baue die Startbahn!”

Den ganzen Tag sind sie beschäftigt. Kim näht die Weste, an der das Netz befestigt wird, damit Jaspar Molly in ihrer Flasche und die Pantoffeln zum Horizont fliegen und dort abwerfen kann. Dann hilft xier Jaspar, das Netz zu knüpfen. Bertha und Molly sind am Strand beschäftigt, hinter den Dünen bauen sie den “Jaspar-Beschleuniger”, wie Molly ihre Erfindung nennt. 

Abends liegt Kim mit klopfendem Herzen im Bett. Nebenan schaut Papa Nachrichten, Molly ist draußen unterwegs. “Um die Startbahn zu prüfen”, wie sie gesagt hat, aber Kim ist sich ziemlich sicher, dass sie einfach zu nervös ist, um in der Flasche zu warten. Jaspar begleitet sie, nur Bertha ist bei Kim geblieben und stupst xien beruhigend mit der Nase an. “Wenn nur alles gut geht”, flüstert Kim ihr ins Ohr, “Wenn wir nur nichts vergessen haben!” Bertha sagt gar nichts, sondern knipst die Nachttischlampe aus und fängt kurz darauf an, leise zu schnarchen. Kim starrt weiter in die Dunkelheit. 

Die Uhr tickt
23:30 Uhr – eine halbe Stunde bis Mitternacht

Und dann ist es endlich soweit. Kim schlüpft aus dem Bett. “Aufwachen, Bertha”, flüstert xier ihr ins Ohr, “Es geht los!” Auf leisen Sohlen schleichen sie sich aus dem Haus. Draußen warten Jaspar und Molly. Jaspar trägt bereits seine Weste und Molly legt gerade ihre Flasche ins Netz. “Ihr kommt genau rechtzeitig”, flüstert sie, “Ich hab die Abschussrampe nochmal geölt, alles läuft wie am Schnürchen! Es kann direkt losgehen! Fehlen nur noch die Pantoffeln und die Ru-” Entsetzt hält sie inne.  

23:46 Uhr – noch 14 Minuten bis Mitternacht

Kim schlägt die Hände vors Gesicht. Die Rumrosinen! Wie konnten sie die nur vergessen? Und wo sollen sie jetzt noch Ersatz finden? Kim rennt zurück in die Küche, xies Herz klopft so laut, dass Papa eigentlich davon wach werden müsste, aber noch ist es ruhig. So schnell und leise wie möglich beginnt Kim die Schränke und Schubladen zu durchwühlen. Jaspar ist xiem gefolgt und zupft an xieser Hose. “Jetzt nicht”, schimpft Kim leise, “nur deinetwegen haben wir jetzt den Salat!” Aber Jaspar lässt nicht locker und schnattert aufgeregt. “Psst, sei still!”, zischt Kim und versucht Jaspar den Schnabel zuzuhalten. Aber der reißt ihn weit auf und darin sieht Kim etwas glitzern: Likörpralinen! Die bringt Oma manchmal mit, aber Papa beschlagnahmt sie sofort. Nur vor Jaspar kann man natürlich keine Süßigkeiten geheimhalten. “Du bist der Beste!”, wispert Kim und rennt wieder nach draußen. 

23:54 Uhr – noch 6 Minuten bis Mitternacht

“Da seid ihr ja endlich!”, erleichtert wabert ihnen Molly entgegen, vor Aufregung ist sie an den Rändern ganz ausgefranst, “Und ihr habt tatsächlich noch Ersatz gefunden!” Kim wickelt eilig die Pralinen aus dem Papier, die in xiesen heißen, schwitzigen Händen schon anfangen zu schmelzen. Auch Mollys Hände scheinen zu zittern, als sie Jaspar das Geschirr anlegt. Es sitzt wie angegossen. Dann richtet sie sich auf, um Abschied zu nehmen.

“Tja, das war’s dann wohl”, sagt Kim und starrt auf xiese Füße. “Wir haben es tatsächlich geschafft.” Ein dicker Kloß sitzt xiem im Hals und xier schluckt schwer. “Freust du dich denn gar nicht?”, fragt Molly leise. “Doch, natürlich”, schluchzt Kim und jetzt laufen xiem die Tränen übers Gesicht, “Ich wünschte nur, dass… die nächsten Ferien ohne dich werden schrecklich langweilig werden!” “Du wünschst dir, dass ich wiederkomme?”, fragt Molly und auch ihre Augen glitzern. “Ja, natürlich wünsch ich mir das”, schnieft Kim. Da nimmt Molly xien ganz fest in den Arm und drückt xien an ihren runden Bauch. “Weißt du… als Flaschengeist darf ich dir diesen Wunsch bestimmt erfüllen”, murmelt sie. Kim starrt sie verblüfft an. “Im Ernst? Du kommst mich besuchen?” “Natürlich”, grinst Molly, “solang du es dir wünschst, kann ich dich jeden Sommer besuchen kommen!” Da zwickt Bertha xien ins Bein. Erschrocken schaut Kim auf die Uhr.

23:58 Uhr – noch 2 Minuten bis Mitternacht

Jetzt muss es schnell gehen. Kim stopft die Pralinen zu den Pantoffeln ins Netz, während Molly mit einem allerletzten Sandsturm in der Flasche verschwindet. Kim legt die Flasche ins Netz und überprüft zum hundertsten Mal, ob sich der Verbindungsknoten leicht lösen lässt. “Alle bereit?”, flüstert xier und setzt Jaspar auf die Wippe. Dann nimmt Bertha Anlauf und wirft sich mit ihrem ganzen Gewicht auf die andere Seite. Jaspar wird hoch in die Luft geschleudert – und stürzt wie ein Stein auf das Meer zu. Kim schaut entsetzt zu, wie der Pelikan wild mit den Flügeln schlägt, aber er scheint sich im Netz verfangen zu haben. “Oh nein”, flüstert Kim und klammert sich an Bertha, “oh nein, oh nein, ohhhh–” 

In letzter Sekunde gelingt es Jaspar, sich zu befreien. Mit eleganten Flügelschlägen steigt er in den Nachthimmel empor.

23:59 Uhr und 55 Sekunden

Kim kneift die Augen zusammen, Jaspar ist kaum noch zu sehen. Ein winziger Fleck vorm Vollmond. Kim hält die Luft an. “Fünf”, murmelt xier, “vier – drei –
zwei –” Ein zweiter Punkt, noch kleiner als der erste, saust aufs Wasser zu. “Eins – und-” Kim meint, das Platschen zu hören, als der zweite Punkt aufs Wasser trifft. Einen Moment steht die Zeit still. Dann leuchtet das Meer auf und ein seufzender Windhauch streicht übers Wasser. Dann herrscht Stille.

Ende
Zumindest fürs Erste

Die Stille wird von Jaspars Flügelschlägen durchbrochen. Erschöpft plumpst der Vogel vor ihnen auf den Strand. “Du hast es geschafft!”, jubelt Kim, “du hast es wirklich geschafft!”

“Wer hat was geschafft?” Auf einmal steht Papa hinter xiem und reibt sich verschlafen die Augen. “Was macht ihr denn hier draußen? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?” “Zwei Minuten nach Mitternacht!”, Kim kann gar nicht aufhören zu grinsen, xier könnte die ganze Welt umarmen. “Kannst du mir mal verraten, was du hier eigentlich treibst?”, fragt Papa. Kim drückt sich fest an ihn. “Wir haben uns den Vollmond angesehen”, flüstert xier und das ist endlich mal nicht gelogen. 

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